
Caspar Plautius, 1621
Dagrún Ósk Jónsdóttir, außerordentliche Dozentin an der Fakultät für Soziologie, Anthropologie und Folkloristik der Universität Island, wird im Rahmen des Weiterbildungsprogramms diesen Herbst einen Kurs mit dem Titel „Kannibalismus und Kultur“ unterrichten.1
Kannibalismus, der in anthropologischen, historischen und kulturellen Kontexten als großes Tabu gilt, ist für die meisten Menschen ein sowohl beängstigendes als auch faszinierendes Konzept. Überlegen Sie also einmal, welche psychologischen oder sozioökonomischen Gründe einen Stamm oder eine Gemeinschaft dazu bewegen könnten, Menschenfleisch zu verzehren?
Zunächst einmal wird im Einführungstext des Kurses ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich bei diesem Programm nicht um einen Kochkurs handelt. Ziel ist es, die Rolle des Kannibalismus in Folklore, Literatur und historischen Erzählungen zu untersuchen.
Das Phänomen des Kannibalismus, in der anthropologischen Literatur auch als „Anthropophagie“ bekannt, wird grundsätzlich in zwei Kategorien unterteilt: Endokannibalismus und Exokanibalismus. Endokannibalismus bezeichnet den Verzehr des Fleisches der eigenen Mitglieder einer Gemeinschaft oder eines Stammes, während Exokanibalismus den Verzehr des Fleisches von Mitgliedern feindlicher oder fremder Stämme bezeichnet.
Die ersten Spuren des Kannibalismus reichen bis in die Altsteinzeit zurück. Es gibt viele archäologische Funde, die belegen, dass Neandertaler und frühe Homo-Sapiens-Gruppen Kannibalismus praktizierten. Insbesondere Höhlenfunde in Moula-Guercy, Frankreich, und El Sidrón, Spanien, enthalten Beweise dafür, dass Neandertaler Kannibalismus sowohl zu Ernährungs- als auch zu rituellen Zwecken praktizierten. Spuren von absichtlichem Knochenbrechen und Markentnahme sowie pathologische Beweise wie Zahn- und Brandspuren legen nahe, dass Neandertaler in Zeiten des Hungers oder bei Todesritualen Kannibalismus praktizierten.
Wissenschaftler glauben, dass Kannibalismus aus verschiedenen Gründen unter Menschengruppen weit verbreitet war, insbesondere im frühen Holozän. Archäologische Funde aus dieser Zeit deuten darauf hin, dass Kannibalismus manchmal aufgrund von Nahrungsmittelknappheit und manchmal aus rituellen Gründen praktiziert wurde. Einige Anthropologen vermuten auch, dass Kannibalismus soziale Funktionen gehabt haben könnte, wie etwa die Stärkung sozialer Bindungen, die Demütigung von Feinden oder die Ehrung der Geister der Toten. In der aztekischen Gesellschaft galt Kannibalismus, der nach Opferzeremonien praktiziert wurde, als wichtiges Ritual, um den Göttern Respekt zu erweisen und die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten.
Das isländische Aschenputtel: Mjaðveig Mánadóttir
Kannibalismus ist ein häufiges Thema in modernen Märchen, auch wenn es aus der Neuzeit fast vollständig verschwunden ist.
Wie Dagrún Ósk Jónsdóttir betont, ist die isländische Version des Aschenputtels ein Paradebeispiel dafür. In dieser Version sieht die Hauptfigur Mjaðveig Mánadóttir, wie ihre Schwestern geschlachtet und in Salzfässer gesteckt werden. Später im Märchen wird die Geschichte noch furchterregender, als sich die Stiefmutter in eine abscheuliche Trollfrau verwandelt, nachdem sie ihre eigenen Töchter gefressen hat.
„Was uns Angst macht, fasziniert uns auch.“
Dagrún Ósk Jónsdóttir macht auf die widersprüchlichen Auswirkungen des Kannibalismus, wie vieler anderer beängstigender Phänomene, auf die menschliche Psyche aufmerksam. Sie weist darauf hin, dass das, was uns Angst macht, uns auch fasziniert. Deshalb werden diese Themen häufig in Geschichten der Popkultur, Horrorfilmen und Podcasts behandelt.
Der Kurs besteht aus zwei Sitzungen
Der Kurs mit dem Titel „Kannibalismus und Kultur“ besteht aus zwei Abendsitzungen am 29. Oktober und 5. November von 20:00 bis 22:00 Uhr. Wer an dem Kurs teilnehmen möchte, kann sich online bei Endurmenntun HÍ anmelden.
- Guðmundsdóttir, Auður Ösp (2024-07-14). „Fræðir áhugasama um mannát – Vísir„. visir.is (in Icelandic). Retrieved 2024-08-21.[↩]